Es handelt sich hier um Briefe, die eine Studentin aus Isfahan, Roxana, an ihre Schwester Fatima, ihre Familie, ihre beiden Brüder, Abu und Ali, sowie ihre Freunde in Deutschland schrieb und um die Antworten, die sie erhielt. Sie bekam vom DAAD ein Stipendium, um ihr Romanistik- und Germanistik-Studium in Bonn Anfang der 70er Jahren fortzusetzen und eine Doktorarbeit über Montesquieu und die orientalischen Frauen zu schreiben. Geschildert wird ihr Lebenslauf an der Alma Mater in Bonn, ihre Reisen durch Deutschland und nach Paris, wo ihre jüngere Bruder Ali Medizin studiert. Es ist das erste Mal, dass sie ihr Land verlässt und den Okzident besucht, ihre Eindrücke schildernd.
Roxana aus Bonn an ihre Schwester Fatima in Isfahan
Zeitgeschehen:
- 3. Mai 1971: In der DDR wird Erich HONECKER auf dem 16. Parteitag des ZK der SED zum ersten Sekretär gewählt. Walter ULBRICHT tritt zurück. Eine Volksstaatscharaktermaske löst die andere ab. Der verlogene Spitzbart mit der heiseren Fistelstimme verschwindet in der Versenkung. Doch ansonsten ändert sich am Parteifilz nichts.
- 9. Mai 1971: Der Amerikaner William ROGERS kehrt ergebnislos aus dem Vorderen Orient zurück. Er hatte sich vergeblich bemüht, zwischen Israel und Ägypten wegen der Wiedereröffnung des Suezkanals zu vermitteln. Enttäuscht von der Israelhörigkeit der USA, schließt daraufhin Anouar AL-SADAT am 27. Mai 1971, der ein Jahr zuvor NASSER als Staatschef abgelöst hatte, ein Freundschaftsabkommen mit dem Russen Nikolaj PODGORNY in Kairo.
- Bernward VESPER nimmt sich am Samstag, den 15. Mai 1971 in der Psychiatrischen Universitätsklinik in Hamburg-Eppendorf das Leben. Kurz zuvor hatte er noch seinem Verleger berichtet: “Meine Lage ist insofern beschissen, da ich eben als bekloppt gelte und damit Jedermann zu beliebiger Abreaktion seiner Ignoranzen und Infantilismen zu dienen habe.” Sein unvollendeter Lebensbericht HATE oder die Reise, erschien erst sechs Jahre später.
Meine liebe Schwester Fatima
Ich weiß gar nicht warum ich so weinen musste, als ich von euch allen am Teheraner Flughafen Abschied nahm. War ich nicht im Grunde froh, endlich der Familie zu entfliehen und für mich selbst verantwortlich zu sein? Vater war wie gewohnt gekünstelt steif, unnahbar, und mein Verlobter Omar kam sich in seiner weißen, goldverzierten Fliegeroffiziersuniform so großartig vor, war so selbstverliebt, dass ich ihm fast zum Abschied eine Ohrfeige gegeben hätte. Ich glaube, ich ließ mich einfach durch Mutters Heulerei anstecken. Dabei warst Du so lieb und unser Bruder Abu trotz seiner schwarzen Kutte und seinem weißen Turban ausnahmsweise recht lustig. Ich hatte mich so gefreut, dass er, um von mir Abschied zu nehmen, extra aus Qom angereist kam.
Im Flugzeug von Teheran nach Deutschland konnte ich erst einmal nach Herzenslust weiter weinen. Ihr saht mich ja nicht mehr. Nun bin ich in Frankfurt am Main gelandet und warte auf den Weiterflug nach Köln Bonn. Die Passkontrolle und die Zollformalitäten habe ich hinter mir. Sie verliefen komplikationslos.
Sauberkeit bis zur Sterilität, das fällt als erstes auf, wenn man im Flughafen den deutschen Boden betritt. Alles ist blitzeblank, gleißend weiß. Die Fußböden glänzen, die Scheiben spiegeln, die Kleidung der Menschen ist ordentlich und sitzt ganz eng an den Körpern. In den überall aufgestellten Fernsehgeräten wird für körperliche Sauberkeit und schneeweiße Wäsche geworben. Waschmittel, Haarschampun, Damenbinden, Slipeinlagen und Duftsprays scheinen hier die wichtigsten Konsumartikel zu sein. Alles riecht nach einer Mischung aus Bohnerwachs und Desinfektionsmitteln. April Frische heißt das auf den Plakaten.
Dabei erscheint mir nichts feuchter, grauer, schmutziger und stinkender, als eben die Luft dieses Land. Überall ein penetranter Chemiedunst. Sauber sind nur die vielen Autos, die Waren, inklusive der Ware Mensch. Der Grauschleier liegt hauptsächlich im Blick der Leute. Uns Orientalen betrachten sie, wie mir scheint, besonders kritisch, von oben, von ihrer Sauberkeit herab an. In den Augen spürte ich lauernde Sachlichkeit, ein irgendwie unkeusches Interesse und gleichzeitig eine berufsmäßige Verdächtigung, zumindest bei den Zoll und Grenzpolizeibeamten. Kein Lächeln, obwohl die Menschen hier direkt in die Augen schauen, woran man sich erst gewöhnen muss. Nur lustlose Geschäftigkeit wo man hinblickt. Auch gesprochen wird hier nur das Nötigste.
Jedermann scheint nur mit sich selbst beschäftigt zu sein, auf sich selbst angewiesen. Nirgends verspürt man Anteilnahme. Und überall häufen sich monströs Waren und Werbeplakate. Durch diese neonglitzernde Fülle gehen die Menschen schnellen Schrittes, wie abwesend.
Am liebsten wäre ich gleich in mein sonniges, schmutziges, von Fliegen wimmelndes, nach tausend Gewürzen duftendes und mit seinem Stimmengewirr vertrautes Isfahan mit der nächsten Maschine zurückgeflogen. Ich habe hier im Flughafengebäude noch keine einzige Fliege gesehen. Die Deutschen scheinen sie völlig ausgerottet zu haben.
Nun bin also auch eine der jungen Iranerinnen, die ins Abendland auszogen, ihren Wissensdurst zu stillen und nicht das Gruseln zu lernen! Ich suche in der Fremde mein Ich zu finden. Das friedliche Familienleben zuhause in Isfahan hielt ich nicht mehr aus…
Doch eben wird der Abflug nach Köln Bonn durch die Lautsprecher angekündigt. Schnell werfe ich noch diesen Luftpostbrief in den gelben Kasten und dann geht es weiter.
In Eile, Küßchen, Deine Roxana.