Die SWR-Bestenliste für den Dezember wird von einer Autorin angeführt, die hierzulande bisher viel zu wenig Aufmerksamkeit genossen hat: Clarice Lispector. Der Erzählband mit dem Titel „Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau“ erzählt von der Tiefe alltäglicher Ereignisse.
Die 1922 in der Ukranine geborene Autorin Clarice Lispector zählt zu eine der wichtigsten Schriftstellerinnen Südamerikas. Hierzulande ist sie bisher weitestgehend unbekannt. Das ändert sich hoffentlich, mit dem nun im Penguin Verlag erschienenen und von Benjamin Moser herausgegebenen Erzählband „Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau“, in welchem die Brilianz Lispectors deutlich hervorsticht. Hier umeschreibt eine Autorin der Moderne komplexe Innenwelten, ohne sich dabei auf mühsam ausformulierte Umschreibungen zu versteifen. Das Buch führt die SWR-Bestenliste für den Monat Dezember an.
Clarice Lispector debütierte bereits im Alter von 23 Jahren mit dem Roman „Nahe dem wilden Herzen“. Das Buch avancierte schnell zum bedeutensten Roman, der jemals von einer Frau in portugiesischer Sprache verfasst wurde. Schon in diesem ersten Werk beschäftigte sich Lispector mit existenziellen Themen und der Möglichkeit des Erforschens von Innenwelten.
Vom Ei bis in die Innenwelt
Ihre eigene Art der introspektiven Suche führte die Autorin auch in ihren folgenden Werken fort, die allesamt eine beachtliche sprachliche Virtuosität aufweisen. Um in die Innenansicht vorzudringen, genügen Lispector oft schon die einfachsten Außenansichten. Dies beginnt beispielsweise morgens am Frühstückstisch, mit der Betrachtung eines Eies:
"Ich erblicke das Ei mit einem einzigen Blick. Auf der Stelle merke ich, dass man ein Ei nicht dauerhaft ansehen kann. Ein Ei anzusehen, hält nie bis in die Gegenwart: kaum sehe ich ein Ei an, wird daraus, dass man ein Ei schon vor drei Jahrtausenden angesehen hat. Sobald man ein Ei ansieht, ist es die Erinnerung an ein Ei.“
Eine durchdringende Sprache
In insgesamt vierzig, zum Teil erstmalig ins Deutsche übersetzte, Geschichten, entdeckt Lispector Gefühle wie Leidenschaft, Angst, Wahnsinn und Mut in solcherlei Altagshandlungen und Beobachtungen. Die Texte mäandern, dringen förmlich nach vorn, krempeln das Banale um. Auch der Tod ist dabei eine ständiger Wegbegleiter, der sich hinter sämtlichen Phänomenen versteckt.
„Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau“ läd dazu ein, eine Autorin kennenzulernen, die abseits der Trivialität und mittels der Literatur versucht ist, Gebiete zu entdecken, die uns vertraut und dennoch fremd sind. Es ist vor allem eine Prosa der exakten Beobachtung, und damit nicht weniger als ein wunderbarer Gegenentwurf zu einer Zeit, deren Mango das Sprunghafte, Unbeständige und die Flüchtigkeit sind.