Martin Walser - "Mädchenleben" Gestürzte Bäume, geschriebene Schreie

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Seit den 1950er Jahren schreibt Martin Walser Buch um Buch. Vor beinahe genau einem Jahr veröffentlichte der mitlerweile 92-Jährige Autor mit "Spätdienst" ein wunderbares Konglomerat lyrischer und essayistischer Gedankenfetzen. Sein neues Buch "Mädchenleben: oder die Heiligsprechung. Legende" beschäftigt sich mit der Kraft des Religiösen.

Ein Jahr nach seinem letzten Buch "Spätdienst" erscheint nun mit "Mädchenleben" ein neues, berührendes Spätwerk Martin Walsers. Foto: Wikipedia

Bei kaum einen anderen deutschsprachigen Autor scheint sich Leben und Schreiben so unmittelbar zu decken wie bei Martin Walser. Seine Werke erscheinen in so kurzer Abfolge, dass es nicht übertrieben wäre zu behaupten: Walser schreibt Essays, Lyrik, Romane und Erzählungen wie Tagebücher; teilt seinen Blick auf schonungslose Weise mit den Lesern. In dieser Art der Suada steckt durchaus auch etwas Radikales, eine Mitteilungswut, vielleicht Sucht. Um seine realen und gefühlten Beobachtungen auch allesamt mitteilen zu können, entschied sich der Autor ab einen bestimmten Punkt, keine Romanhandlungen mehr zu erzählen, sondern sich auf die wesentlichen Momente, auf die Destillate des Denkens zu konzentrieren. So war es bereits bei seinem letzten Buch, "Spätdienst" der Fall gewesen. Knappe Gedankenblöcke, essayistisch, lyrisch, aphoristisch.

Das "entzündende" Mädchen

"Ein Mädchen ist verschwunden. Ich spüre, dass man mich verdächtigt, deshalb bin auch ich verschwunden und schreibe jetzt, was ich weiß, um zu beweisen, dass nicht ich es war, der am Verschwinden des Mädchens schuld ist."

So beginnt Walser eine Geschichte zu schreiben, die innerhalb seines Œuvres weder ohne Vorgeschichte ist, noch aus dem Rahmen fällt. Skizzen zu der hier anzutreffenden Geschichte finden sich bereits in seinem Tagebuch von 1961. Ganz so aphoristisch wie "Spätdienst" kommt "Mädchenleben" nicht daher, gibt es hier - der erste Satz kündigt es bereits an - doch durchaus eine Handlung. Stilistisch gibt es allerdings nicht zu verkennende Gemeinsamkeiten. Die Sätze werden kürzer, kristalliner, treffener. Und auch hier, in "Mädchenleben", zerfällt das Buch gegen Ende in Aphorismen, Notate und Sinnsprüche. Walser erklärt diese Verkürzung mit seiner im Alter immer stärker abnehmenden Atemkapazität. Er könne erst weiteratmen, nachdem er einen Punkt gesetzt hat.

Das verschwundene Mädchen trägt den Namen Sirte. Der "Heiligsprecher" der Erzählung, sind zum einen Sirtes Vater, der die Mutter prügelt und vergewaltigt; ein Immobilienhändler Namens Ludwig Zürn, und der Lehrer Anton Schweiger, der Zimmerherr der Familie ist und von der "Legende" berichtet. Schweiger sieht in Sirte ein "entzündendes" Mädchen. In seiner Faszination hat begonnen, ihre Sätze und Gesten aufzuschreiben.

Worin aber besteht dieses "Entzündende", welches Schweiger an dem Mädchen entdeckt? In ihrem Verhalten beispielsweise. Sirte rennt in den See wenn es stürmt, und will diesen dann nicht mehr verlassen. Verlässt sie ihn, redet sie ohne Unterlass, wirr und unverständlich. Sie isst Ameisen, liest Dostojewsi und wird zeitweise von einer regelrechten Zerstörungswut gepackt. Doch hinter all dem scheint weniger eine Verrücktheit, als eine Lebensangst zu stecken. "Schreiben, um nicht zu schreien", heißt es etwa im Buch, oder "Gestürzte Bäume sehen aus wie erlöst". Schnell wird klar, dass das religiöse Erleben, wie oft bei Walser, auch hier den Kern seines Erzählen bildet.

Dem Tod gegenüber

Das Wortgewaltige Buch zeigt einen Martin Walser im Anblick des Todes. Einen Autor, der nicht in Starre verfällt, sondern, unter schweren Atemzügen, selbst hier noch seine Momente zu Papier bringt. Auch die religiösen Passagen, in erster Linie aus Sirtes Tagebuch zitiert, zeugen von dieser Erfahrung, vom zuweilen Kraft spendenden Glaube: "Lieber mit Gott reden als mit Menschen", "Es gibt kein Leben vor dem Tod".

"Mädchenleben" rekurriert auf Walsers Werk. Es scheint der Versuch zu sein, sich von einem Leben loszuschreiben, um es sich im nächsten umso beruhigter bequem machen zu können, dort das Notizheft aufzuschlagen, zum Stift zu greifen, und unter längeren Atemzügen die nächsten Sätze zu formulieren. Sich mit jeder weiteren Zeile ins Reine bringen; das Schreiben bereits jetzt, noch zu Lebzeiten, vermissen - manch einer, mag das Kitsch nennen. Doch Behauptungen, die allzu schnell werten und vergessen wollen, beißen bei einem Autor wie Martin Walser auf Granit.

Martin Walser - "Mädchenleben: oder Die Heiligsprechung. Sage", Rowohlt Verlag, 2019, 96 Seiten, 20 Euro

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