Wie wollen wir wissenschaftlich denken? Was bedeutet es, Wissen und Erkenntnis in einem konventionellen Sinne weiterzugeben und zu empfangen? In seinem Buch "Denken in einer schlechten Welt" plädiert Geoffroy de Lagasnerie für eine "oppositionelle Wissenschaft" und somit für ein Denken, welches den gängigen Methoden widerstrebt.
Dass wir in einer denkbar schlechten Welt leben, deren Errungenschaften und Fortschritte oftmals auf Ausbeutung und Gewalt gründen, ist für den französischen Philosophen und Soziologen Geoffroy de Lagasnerie eine Tatsache, die keinerlei Belege bedarf. In seiner Streitschrift "Denken in einer schlechten Welt" konzentriert er sich daher vor allem auf die nach Wertefreiheit strebenden Wissenschaften, die es sich - so kann man sagen - in jener dunkel eingefärbten Welt bequem gemacht haben. Das nur 120 Seiten starke Buch ist einschlägig und nachvollziehbar geschrieben, und vor allem für junge Studierende eine Art Weckruf, den konventionelleren Vorlesungen an ihren Universitäten kritischer gegenüberzutreten. Was bedeutet es, kritisch zu denken? Wie wichtig ist das Beziehen einer eigenen Position? Und nicht zuletzt: gibt es überhaupt unpolitische Haltungen? Lagasneries Antwort ist klar: Für Kulturschaffende kann es keine Neutralität geben.
Das Schreiben schafft Diskurs
Das Nachdenken über die wissenschaftliche Praxis geht hier nicht mit der Frage einher, ob es eine sogenannte "kritsche Wissenschaft" überhaupt gibt. Stattdessen springt Lagasnerie - sich einer schlechten Welt bewusst - gleich zur Frage, was kritische Wissenschaft in dieser schlechten Welt heißen kann. Was heißt es beispielsweise, unter den gegenwärtigen Umständen Kultur und Kunst zu produzieren? Künstler*innen und Kulturwissenschaftler*innen produzieren Werte und Ideen in diese Welt hinein, sie fördern Diskurse, reproduzieren Eindrücke oder setzen der bestehenden Welt ihre eigenen Entwürfe entgegen. Damit sind sie - und dies zu verinnerlichen ist ein wichtiger Auftrag des Buches - Teilhabende, Mitverantwortliche.
Aus der Gewissheit der Unmöglichkeit einer unpolitschen Geste einerseits, und der Tatsache einer schlechten, von Gewalt und Herrschaft beseelten Welt andererseits, ergeben sich für Lagasnerie zwei mögliche Praktiken, denen Künstler*innen und Wissenschaftler*innen folgen können: 1. Sich den Zeitläufen und Umständen gegenüber "neutral" zu verhalten (und somit diese schlechte Welt zu bejaen) oder 2. sich von diesem System zu befreien, indem man es mittels der eigenen Arbeit destabilisiert. Der Versuch neutral zu bleiben, endet aus Sicht des Soziologen immer daran, sich dem herrschenden System anzupassen.
Die oppositionelle Wissenschaft
Was nun folgt ist die Aufforderung zu einer oppositionellen Wissenschaft, zu einem Denken also, welches sich per ser als eine politische Praxis versteht. In Frankreich ist Geoffroy de Lagasnerie mit der Forderung und Umsetzung dieser Praxis nicht allein. Gemeinsam mit Didier Eribon und Eduard Louis - die mit ihren Büchern Rückkehr nach Reims (Eribon) und Wer hat meinen Vater umgebracht (Louis) auch in Deutschland zu aktuellen Debatten anregten - bildet Lagasnerie so etwas wie ein Dreiergespann der linksintellektuellen Szene. Das der Zugang zur schriftstellerischen Praxis bei den Dreien identisch ist, macht neben ihren Büchern auch eine Aussage Eduart Louis deutllich, der den Impuls zum Schreiben in einem Gespräch damit begründete, dass er vor allem gegen die bestehenden, literarischen Traditionen anschreiben will.
In "Denken in einer schlechten Welt" rekurriert Lagasnerie immer wieder auf Autoren, die ähnliche Ansätze bereits hervorgebracht haben (insbesondere Horkheimer und Adorno). Neu sind diese Ansichten also nicht, das weiß auch der Autor. Neu allerdings ist das Kostüm, in welchem sie sich darbieten. Schmissig, verständlich und nachvollziehbar geschrieben, könnte sich "Denken in einer schlechten Welt" bald in den Jackentaschen der Studierenden befinden, wie es einst bei Henry David Thoreaus "Über die Pflicht zum Unbehorsam gegen den Staat" der Fall gewesen war.
Geoffroy de Lagasnerie - "Denken in einer schlechten Welt", Matthes & Seitz, 2019, 120 Seiten, 15 Euro