Hip, individuell, einfach - monoton und gleich. Es ist ein seltsames Phänomen, dass auf Individualisierungslust Angleichung folgt. Die Verlegerin und Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Karin Schmidt-Friderichs, berichtet im Börsenblatt von einer Vertriebsreise, in der sie auf all das traf, was zu schwinden scheint: "die Vielfalt, die Unabhängigkeit, die Bibliodiversität". Ein Kommentar.
Buch- Kultur und Kunstwelt spiegeln die Gesellschaft im Kleinen. Und zu diesem Spiegelbild gehört wohl auch immer stärker, dass Fragen und Forderungen nach neuen Ideen, dass die Lust zum Aufbruch abgeklungen, und durch ein Prinzip des "Auf-Nummer-Sicher-Gehens" ersetzt wurden. Das am liebsten und ehesten verlgegt und gezeigt wird, was gute Absätze erwarten lässt, und das - wenn es dann doch einmal um Literatur geht - schnell auf die guten alten Verkaufsschlager verwiesen wird, die eben einerseits noch Literatur, andererseits aber auch vielversprechende Verkaufszahlen garantieren. Bekannte Musiker werden verlegt. Gerne auch Blogger. Gut sind auch Instagram-Stars, Influencer, Youtuber. Auf der anderen Seite dann Walser und Co., die allerdings längst nicht mehr die Zugpferde der Verlage sind.
Vielfalt, Unabängigkeit, Diversität
Natürlich geht es nicht erst seit Gestern beim Verlegen von Büchern um Geld. Allerdings scheint es beim Bücher Schreiben zunehmend genau darum zu gehen. Ein Buch zu schreiben ist längst nicht mehr damit verbunden, ins Literarische einzutauchen, ist nicht mehr an die Magie des Buches und seiner Geschichte, nicht mehr am Dispositiv des Handwerkes selbst gekoppelt. Kein Kopf an Kopf rennen großer Schreiber*innen mehr, vielmehr ein Nebeneinander-Herproduzieren. Laptop, Tippen, Verlegen, Amazon, um später, im Interview, dann von einer "gewaltigen Arbeit" zu sprechen, deren Seelenlosigkeit sich jedoch selbst im Gesicht des oder der Redenden allmählich abzuzeichnen beginnt.
Dieser permissive Zu- und Umgang, dieses lustlose, marktorientierte Nebenher, färbt sich natürlich (es kann nicht anders sein) auch auf den Buchmarkt ab. In einem Artikel des Börsenblatts berichtete die Verlegerin Karin Schmidt-Friderichs unlängst von einer Vertriebsreise, die sie für ihren Verlag "Hermann Schmidt" unternahm. Hierbei stieß die Verlegerin auf Orte der literarischen Vielfalt:
"Ich war in kleinen Independent-Buchhandlungen und im 1-a-Laden einer großen Buchhandelskette. Ich sprach mit unterschiedlichsten Menschen, die eines verbindet: die Liebe zum Buch. Und sie lebten diese Liebe!" schreibt Schmidt-Friederichs, setzt aber bald schon nach und warnt: Diese Liebe sei in Gefahr! Sie warnt vor allem davor, dass all die Independent-Buchläden, in denen nach wie vor eine solche Nähe zum Buch, zum Literarischen herrscht, aufgekauft, algorithmisiert werden könnten. Dass das Interesse an einem Buch bald schon ganz selbstverständlich damit einhergehen könnte, auf "kaufen" zu klicken, und somit verloren geht, was unbedingt erhalten bleiben sollte: "Vielfalt, Unabhängigkeit und Diversität".
"Die gute alte Zeit"
Schmidt-Friderichs benutzt selbst diese Worte: "Sie denken jetzt, ich schreibe von der "guten alten Zeit". Und fast glaube ich das auch.". Und da wären wir wieder am Anfang dieses Artikels: Es ist ein seltsames Phänomen, dass auf Individualisierungslust Angleichung folgt. Dass wir, je individueller und freizügiger wir unser Leben gestalten, scheinbar auch zunehmend Diversität einbüßen, abhängiger und einfältiger werden.
Karin Schmidt-Friderichs aber, sprach nicht von der "guten alten Zeit", sie sprach von der Gegenwart. Ihr Bericht ist die Aufforderung, ganz bewusst darüber nachzudenken, wie wir mit der Lese- und Buchkultur umgehen wollen und welche Traditionen wir aufrechterhalten sollten. Es gilt abzuwägen: Wie viel Freiheit steckt darin, nach Belieben auf "Kaufen" klicken zu können, und wo werden welche Freiheiten in eben jenem Moment beschnitten. Karin Schmidt-Friedrichs beendet ihren Bericht mit einem Hinweis darauf, worüber wir reden sollten, wenn uns die Literatur tatsächlich am Herzen liegt: "über Buchmomente und Buchbegeisterung".
Topnews
Ein Geburtstagskind im März: Christa Wolf
Bertolt Brecht – Geburtstagskind im Februar: Ein literarisches Monument, das bleibt
Wie Banksy die Kunst rettete – Ein überraschender Blick auf die Kunstgeschichte
Ein Geburtstagskind im Januar: Franz Fühmann
Zauberberg 2 von Heinz Strunk
100 Jahre „Der Zauberberg“ - Was Leser heute daraus mitnehmen können
Oschmann: Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung“ – Umstrittene russische Übersetzung
Überraschung: Autorin Han Kang hat den Literaturnobelpreis 2024 gewonnen
PEN Berlin: Große Gesprächsreihe vor den Landtagswahlen im Osten
„Freiheitsschock“ von Ilko-Sascha Kowalczuk
Precht: Das Jahrhundert der Toleranz
Jenny Erpenbeck gewinnt Internationalen Booker-Preis 2024
Karl Ove Knausgård: Das dritte Königreich
Romanverfilmung "Sonne und Beton" knackt Besuchermillionen
Asterix - Im Reich der Mitte
Rassismus in Schullektüre: Ulmer Lehrerin schmeißt hin
14 Nominierungen für die Literaturverfilmung "Im Westen nichts Neues"
"Die Chemie des Todes" - Simon Becketts Bestsellerreihe startet bei Paramount+
Michel Houellebecq und die "Aufstachelung zum Hass"
Kauf und Verkauf auf Medimops und Momox: Warum Sie hier nur seelenlose Bücher erhalten
Die sechs Finalisten des "Sales Awards" stehen fest
Buchhandlungen feiern ihre Unabhängigkeit
Die besten Buchhandlungen Deutschlands
Amazon: "Kostenlose" Bücher? Dann einmal die Daten bitte...
Microsoft schließt E-Book Store. Vielleicht doch wieder zum analogen Buch greifen?
Wie wirken sich digitale Angebote auf den Buchmarkt aus?
Zur Aktualität von Bertolt Brecht´s Dreigroschenoper
Zeig mir dein Bücherregal und ich sag dir wer du bist...
Medienkritik: Bringt das ZDF genügend Literatur?
Wie können Buchhandlungen Verluste in der Krisen-Zeit ausgleichen?
Shut down im Kulturbetrieb: Die Themen der kommenden Ausgabe von "ttt" - titel, thesen, temperamente
"Das Blaue Sofa": Dieses Jahr im ZDF-Hauptstadtstudio
Dein Recht auf Faulheit!
Das Literarische Quartett: Ab März mit Thea Dorn als Gastgeberin
Aktuelles

Claudia Dvoracek-Iby: mein Gott
Claudia Dvoracek-Iby

Claudia Dvoracek-Iby: wie seltsam
Claudia Dvoracek-Iby

Marie-Christine Strohbichler: Eine andere Sorte.
Marie-Christine Strohbichler

Der stürmische Frühlingstag von Pawel Markiewicz
Pawel Markiewicz
„Der Gesang der Flusskrebse“ – Delia Owens’ poetisches Debüt über Einsamkeit, Natur und das Recht auf Zugehörigkeit
„Der Duft des Wals“ – Paul Rubans präziser Roman über den langsamen Zerfall einer Ehe inmitten von Tropenhitze und Verwesungsgeruch
„Die Richtige“ von Martin Mosebach: Kunst, Kontrolle und die Macht des Blicks
„Das Band, das uns hält“ – Kent Harufs stilles Meisterwerk über Pflicht, Verzicht und stille Größe
Magie für junge Leser– Die 27. Erfurter Kinderbuchtage stehen vor der Tür
„Die Möglichkeit von Glück“ – Anne Rabes kraftvolles Debüt über Schweigen, Schuld und Aufbruch
Für Polina – Takis Würgers melancholische Rückkehr zu den Ursprüngen
„Nightfall“ von Penelope Douglas – Wenn Dunkelheit Verlangen weckt
„Bound by Flames“ von Liane Mars – Wenn Magie auf Leidenschaft trifft
„Letztes Kapitel: Mord“ von Maxime Girardeau – Ein raffinierter Thriller mit literarischer Note
Drachen, Drama, Desaster: Denis Scheck rechnet mit den Bestsellern ab
Benedict Pappelbaum
Rezensionen
Good Girl von Aria Aber – eine Geschichte aus dem Off der Gesellschaft
Guadalupe Nettel: Die Tochter
„Größtenteils heldenhaft“ von Anna Burns – Wenn Geschichte leise Helden findet
Ein grünes Licht im Rückspiegel – „Der große Gatsby“ 100 Jahre später
"Neanderthal" von Jens Lubbadeh – Zwischen Wissenschaft, Spannung und ethischen Abgründen
