Der Philosoph Richard David Precht hat den dritten Band seiner Philosophiegeschichte fertiggestellt. Nach "Erkenne die Welt" und "Erkenne dich selbst" heißt es nun "Sei du selbst". Precht liefert darin - wie immer gut nachvollziehbar - diverse Denkansätze wichtiger Philosophen, jedoch keine einfachen Antworten. Die gibt es nämlich nicht. Und gerade dies sei, so der Philosoph, das Schöne daran.
Auf dem Umschlag, leicht von Autorenname und Buchtitel verdeckt, erkennt man das Motiv eines berühmten Gemäldes: "Der Wanderer im Nebelmeer" von Casper David Friedrich. Am scheinbar höchsten Punkt angekommen, steht die Figur des Gemäldes zugleich vor einem Abgrund. Eine Allegorie, die sich gut auf die gesellschaftlichen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts beziehen lässt, welche, von einem enormen technischen Fortschritten getrieben, im ersten Weltkrieg kulminieren. Hier endet dann auch dieser dritte Band der Philosophiegeschichte, der sich mit der Frage nach den Möglichkeiten des Sich-Selbst-Erkennens auseinandersetzt, und auf diesem Wege erstaunliche Parallen zur Gegenwart aufkommen lässt.
Wer bin ich? Sei du selbst!
Im Jahr 2007 wurde Richard David Precht mit einem Buch namens "Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?" schlagartig berühmt. Precht hatte es darin geschafft, ein breites Publikum auf nachvollziehbarer Weise an komplexe Fragestellungen heranzuführen. Im dritten Band seiner insgesamt vierteil igen Philosophiegeschichte, welcher mit demTitel "Sei du selbst" überschrieben ist, werden viele Fragen des früheren Buches ein weiteres Mal aufgegriffen (dieses Mal jedoch aus einer philosophiegeschichtlichen Perspektive beleuchtet). Dass es viele Fragen - darunter gerade die großen - gibt, die sich einer einfachen Antwort entziehen, sieht Precht positiv.
Eine Wahrheit, viel Diziplinen
In "Sei du selbst" werden wir mit den unterschiedlichen Denkmethoden und Ansätzen des 19. Jahrhunderts vertraut gemacht, die allesamt versuchen, die Welt unter der jeweils eigenen Idee zu vereinen. Noch gibts es die Vorstellung, es gäbe eine universelle Wahrheit, doch diese Fassade scheint zunehmend marode. Eine der in dieser Hinsicht größten Vorstellungen, Gott, stirbt in diesem Jahrundert. Nicht nur durch den von Friedrich Nietzsche ausgesprochenen Satz: "Gott ist tot" sondern vor allem durch die naturwissenschaftlichen Entdeckungen Charles Darwins. Hinzu kommen die aus der industriellen Revolution gewonnen Erneuerungen. Dampf in den Straßen, Glühbirnen statt Kerzen, Börsen, an denen spekuliert wird. Der Aufbruch in die Moderne fällt mit der Überforderung der Menschen zusammen.
Die Naturwissenschaft wird in diesem Band allgemein zu einem wichtigen Protagonisten, nämlich zum Antigonen der Philosophie. Sie fordert die Alleinherrschaft im Bereich der Erkenntnisse über die Welt, die nun, da das Jenseits weitestgehen aus den Köpfen vertrieben wurde, vermaterialisiert werden soll. Viele Philosophen reagieren, indem sie versuchen, die eigenen Ansätze auf ein naturwissenschaftliches Niveau zu bringen. Dagegen widerum sträuben sich Denker wie Schopenhauer, Nietzsche und Kierkegaard, die in der Philosophie eine Art Lebensentwurf sehen, und - insbesondere Kierkegaard - als die ersten Vertreter der im 20. Jahrhundert aufkommenden Existenzphilosophie gesehen werden können.
Ein regelrechter Schlagabtausch, dem Precht, wie immer, unzählige Querverweise zur Seite stellt, so dass man selbst die Lust verspührt, sich mit der Arbeit von Comte, Durkheim, Simmel und Weber zu beschäftigen.
Wie wir es nicht machen sollten
Die Welt zersplittert, und das Resultat ist Überforderung. Und als Reaktion auf die Überforderung, wünscht man sich einfache Antworten, wie Gott oder Grenzen oder Nationalsimus. Aus dem Verlauf des 19. Jahrhunderts können wir, wie Precht meint, eine Menge darüber lernen, wie wir mit den gegenwärtigen Entwicklungen nicht umgehen sollten:
„Heute beginnt das zweite Maschinenzeitalter, das Zeitalter des maschinellen Lernens, der Künstlichen Intelligenz. Und das erste, was wir wieder erleben ist: Restauration. Die Leute wollen wieder einfache Antworten, sie wollen wieder zurück in etwas Einfacheres. Alles zerfällt, alles zersplittert. Und ich glaube, dass wir durch das Vertiefen in das 19. Jahrhundert viel darüber lernen können, welche gewaltigen Probleme auf uns zukommen. Und ich verbinde das immer mit der Hoffnung, dass wir nicht all das durchleiden müssen, was die Menschen damals durchlitten haben.“
Richard David Precht - "Sei du selbst", Goldmann Verlag, 2019, 608 Seiten, 24 Euro