In seinem Buch "Agentterrorist" schreibt der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel über seine Zeit im türkischen Gefängnis "Silivri"; erzählt von Folter, Liebe und Solidarität. Es ist die politische Analyse eines skrupellosem Regimes, welches unter der Führung von Recep Tayyip Erdoğan viele "kritische Denker" ins Gefängnis verfrachtet(e) und wegsperrt(e). Yücels Geschichte beschreibt auch den Kampf zwischen Demokratie und Autokratie.
"Agentterrorist": Zeilen aus der politischen Gefangenschaft
Am 27. Februar 2017 wird der deutsch-türkische Journalist und Publizist Deniz Yücel von einem türkischen Gericht in Untersuchungshaft gesteckt. Der Vorwurf lautet: „Propaganda für eine terroristische Vereinigung und Aufwiegelung der Bevölkerung“. Was hier als "Propaganda für eine terroristische Vereinigung" bezeichnet wurde, waren unabhängige und kritische Berichterstattungen über die politische Situation in der Türkei, die Yücel als Journalist führte. Das Gericht begründete seine Entscheidung unter anderem mit einem von Yücel (im Herbst 2015) geführten Interview mit einem Gründungsmitglied der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).
Solidarität und Konsequenz
Was nach der Inhaftierung folgte, waren politische Debatten, Demonstrationen und Auseinandersetzungen, die vor allem in Deutschland zu einer starken Solidaritätsbewegung führten. In seinem heut erschienenden Buch "Agentterrorist" nennt Yücel unter anderem diese von außen her durch die Knastmauern dringende Solidarität (#FreeDeniz) als einen wichtigen, unterstützenden Faktor. Allerdings wurde diese Tagebuchähnliche Schrift keinesfalls von Jemanden verfasst, der unter der rigorosen Willkür einer Staatsgewalt zusammenbricht und um Hilfe bettelt. Im Gegenteil. Schon während seiner Haft schmuggelte Yücel immer wieder einzelne Texte nach draußen, aus denen deutlich wird, dass er nicht einmal daran denkt einzuknicken. An die deutsche Bundesregierung etwa richtete er den Satz: "Für schmutzige Deals stehe ich nicht zur Verfügung", um sich so als politische Marionette unwirksam zu machen. Eine Sammlung dieser Texte ist in einem Buch mit dem Titel "Wir sind ja nicht zum Spaß hier" erschienen.
Den Titel für das heut erscheinende Buch "Agentterrorist" gab im übrigen der türkische Präsident höchstpersönlich, der Yücel als einen solchen "Terroristen" in den Medien bezeichnete. Abgesehen von dieser flappsigen Verdrehung schreibt Yücel hier allerdings weitestgehend persönlich und berührend über seine Erfahrungen in Gefangenschaft und - parralel - über die politische Situation in der Türkei. Über die Verhaftung des Journalisten Mesale Tolu und des Menschenrechtlers Peter Steudtner beispielsweise. Und über den anschließenden Protest des türkischen Oppositionsführers, der zu Fuß von Ankara nach Istanbul lief. Oder darüber, wie Erdogan Deutschland Nazi-Methoden vorwirft, als das Auftrittsverbot für AKP-Politiker hier zu Lande verkündet wurde. Es gäbe unzählige andere Vorkommnisse zu nennen, die in diesem Buch ausformuliert werden. Deniz Yücel schreibt hier nicht weniger als eine Analyse der politisch bestimmten Gegenwart in der Türkei seit den Protesten im Gezi-Park 2013, und er schreibt sie als eine Figur dieser Gegenwart.
Plötzlich wechselt die Szenerie wieder: Kalte Mauern, Folter, Solidarität und Konsequenz. Und eines wird schnell klar: Es ist ein nicht zu brechender Wille, der hier schreibt und spricht, eine sich immer wieder aufbäumende Hoffnung, ein politisches Engagement, welches man wahrhaftig nennen kann.
Keine Summe der Welt...
Zu den persönlicheren Passagen zählen etwa jene, in denen Yücel darüber schreibt, wie er von der Krebserkrankung seines Vaters erfährt, der vier Monate nach der Freilassung des Journalisten stirbt. Das türkische Verfassungsgericht gibt Yücel später recht und bezeichnet die Untersuchungshaft als rechtswidrig. "Keine Summe" schreibt Yücel, "könnte mir und meinen Liebsten das gestohlende Jahr wiedergutmachen...".
Dann kommen die Schläge der Gefängniswerter, die, so Yücel, anders als bisher erfahrende Gewalt bewusst auf eine Verletzung seiner Würde abzielten, "womöglich auf direkte Veranlassung" Erdogans. Der Yournalist wird gezwungen sich zu verbeugen. Man versucht diesem Selbstbestimmten fremdzubestimmen, ihn zu brechen. Nicht zuletz um diesen entwürdigenden Momente entgegenzuwirken, schreibt Yücel sein Buch, schreibt sich frei. Auch wenn ihm das vielleicht gelungen ist, an Gerechtigkeit glaubt der Journalist bis hier her nicht, denn:
„Ein bisschen Gerechtigkeit wird erst hergestellt sein, wenn Erdogan und alle anderen, die an meiner Geiselnahme beteiligt waren, auch seine Handlanger in der Justiz, eines Tages – und in einem rechtsstaatlichen Verfahren – zur Verantwortung gezogen werden.“
Hinweis: Am Sonntag wird Deniz Yücel zu Gast in dem Podcast "Fest und Flauschig" von Olli Schulz und Jan Böhmermann sein. Zu hören auf Spotify.
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