Wanderer, kommst du an den großen Binnensee mitten in der Stadt, bleib stehen und staune. Eine breite Allee führt am parkähnlichen Seeufer entlang; zwar ist diese stark befahren, aber Tempo 30 ist vorgeschrieben, und Zäune, Mauern und mächtige alte Bäume sorgen zusätzlich für die Ruhe der hiesigen Bewohner. Man gibt sich hier bescheiden und unauffällig, einerseits will man keinen Neid erregen, andererseits ist man auf Sicherheit bedacht.
Wer wohnt wohl an der Adresse Schöne Aussicht Nr. 7? Gerade öffnet sich das grüne, zackenbewehrte Tor, als ob jemand "Sesam, öffne dich" gerufen hätte, und lässt den Blick frei auf die breite Einfahrt, die zur Garage und dem eher unscheinbaren, aber geräumigen dreistöckigen Haus daneben führt. Im Erdgeschoss wohnt ein Designer, der nur am Wochenende hier ist, im 2. Stock hat ein brasilianisches Paar, das sich ab und zu in der Stadt aufhält, seine Wohnung. Gerade fahren zwei Möbelwagen aufs Grundstück. Heute wird nämlich ein neuer Mieter in den 1. Stock einziehen, ein Chefredakteur mit seiner jungen Freundin.
Eine Studentin, die in der Redaktion jobbt, hilft dabei. Zuerst wollte sie nicht so recht, sie sieht sich insgeheim lieber als zukünftige Assistentin in der Redaktion, nicht als Umzugshelferin, aber die Freundin des Chefredakteurs hat sie dermaßen bekniet, bis sie schließlich in einer Mischung aus Resignation, Genervtheit und Geschmeicheltsein nachgegeben hat. Schließlich soll es Geld dafür geben, und Geld ist normalerweise schwerer zu verdienen. Während der Chefredakteur heute noch diverse Redaktions-Meetings hatte, haben seine Freundin und die Studentin den ganzen Umzug gemanagt. Alles hat prima geklappt, was nicht unwesentlich der Studentin geschuldet ist, die eine praktische Natur ist und gut organisieren kann. Mittags hat sie die Umzugsleute in ein Restaurant geführt, weil die Freundin des Chefredakteurs noch mit den Dekorateuren zu tun hatte; beim Essen hat sie die Umzugsleute unterhalten, was ihr nicht schwerfiel, weil sie nicht aus der Oberschicht kommt und keine Berührungsängste vor "solchen Leuten" hat. Danach hat sie die Männer wieder zum Haus begleitet, wo zwei große Umzugswagen darauf warten, entladen zu werden.
Sie selber ist noch mal zu einem Bäcker gelaufen, um Teilchen für den Nachmittagskaffee zu holen; sie freut sich schon auf den Puddingplunder, den sie für sich selbst vorgesehen hat. Nachdem sie in der modernen Einbauküche für alle Kaffee gekocht hat, flitzt sie zur nächsten U-Bahn-Haltestelle, um einen Strauß Sonnenblumen zu besorgen, damit es im Esszimmer ein bisschen heimeliger aussieht, wenn das Paar abends die erste Mahlzeit einnehmen wird.
"Wo krieg ich einen Strauß Sonnenblumen her?", hatte die Freundin des Chefredakeurs geseufzt. "Das sind seine Lieblingsblumen!"
"Ich weiß, wo", hatte die Studentin eifrig geantwortet. "Soll ich welche holen?"
Dass sie von der Wohnung restlos begeistert war, hat die Studentin vielleicht allzu sehr gezeigt. Die Freundin des Chefredakteurs hat sie unter Umarmungen und viel Lob hinauskomplimentiert, sie gegen ihren Willen in ein Taxi gesetzt ("Nein, nein, ich lass dich doch jetzt nicht mit der U-Bahn fahren! Das hast du dir verdient!"), obwohl die Studentin lieber zu Fuß am Binnensee entlang nach Hause gegangen wäre, um sich in der frischen Brise von dem anstrengenden Tag zu erholen. Okay, musste sie sich also auf eine Zwangsbeglückung einlassen, die nur den Zweck hatte, sie schnell und nachhaltig loszuwerden, nicht dass sie noch in der Wohnung herumstand, wenn der Chefredakteur nach Hause käme. Wie beschämend, so hinausgeworfen zu werden. Eigentlich hätte sie noch gerne einen Kaffee getrunken, aber die Kanne war leer und ihr Puddingplunder war auch weg, auf den sie sich so gefreut hatte. Als sie im Taxi sitzt, denkt sie: Sie lassen dich nur als Domestike an sich ran; wenn sie dich nicht mehr brauchen, klappt das Tor zu.
Wer wohnt an der Schönen Aussicht Nr. 7, hinter alten Bäumen, hohen Mauern, in bescheiden aussehenden Häusern? Vielleicht ein Chefredakteur mit seiner jungen Freundin, ein Modedesigner am Wochenende, ein Paar aus Brasilien, wenn es in der deutschen Großstadt zu tun hat. Verläufst du dich in diesen Stadtteil, wirst du das Anwesen nicht sehen können, denn das grüngestrichene Tor ist gut verschlossen. Man ist hier nicht nur zurückhaltend, sondern auch auf Sicherheit bedacht.